Die Digitalisierung hat auch die Weiterbildung revolutioniert. Traf man sich bisher vor Ort für einen Seminarbesuch, findet die Veranstaltung jetzt per Web statt.

 Autor: Dipl.-Betriebswirt Rolf Leicher

Während früher Seminarräume und Tagungshotels die Anlaufstelle für Wissensdurstige waren, öffnet heute der Laptop den Weg zur Weiterbildung – bequem, flexibel und ohne Reisekosten. Doch können Webinare das klassische Präsenzseminar wirklich ersetzen, oder bleibt der persönliche Austausch unverzichtbar?

Typisch Webinar
Das Webinar steht im Wettbewerb mit der althergebrachten Form des Präsenzseminars. Gegenüber den klassischen Vorträgen bieten Webinare sowohl Vorteile als auch Nachteile. Lässt sich Wissensvermittlung besser via Web durchführen? Gehören Präsenzseminare nun der Vergangenheit an?

Vorteile des Webinars werden meist einseitig betont. Der Seminarteilnehmer spart Reisekosten und Übernachtung. Die räumliche Beschränkung eines Seminarraums entfällt, sodass auch grosse Teilnehmerzahlen möglich sind. Im Gegensatz zu anderen Weiterbildungsformen vereint das Webseminar die Formate Video, Audio und Text-Chat. Damit ist eine vielseitige Wissensvermittlung möglich. Ein Webseminar lässt sich aufzeichnen, wodurch man die Aufnahme zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ansehen und sie den Mitarbeitern zeigen kann.

Im Webinar ist der Erfahrungsaustausch unter den Teilnehmern nicht so einfach. Man sieht sich und die anderen Teilnehmer nur im Bildausschnitt, wirkt weniger durch die Körpersprache und kann sich gegenseitig weniger beeinflussen. Der Kontakt in der Pause und das wichtige «Get-together» der Teilnehmer untereinander entfallen, man spricht von «sozialer Isolierung».

Im Webinar gelten bei der Wissensvermittlung andere Spielregeln als im Präsenzseminar. Als Teilnehmer muss man sich rechtzeitig mit der Webinar-Technik vertraut machen. Die Inhalte bleiben gleich, doch der Wissenstransfer hat sich geändert. Die richtige Vorbereitung und das onlinegerechte Verhalten während der Veranstaltung dürfen nicht unterschätzt werden. Ob man im Präsenzseminar oder online mit dem Referenten oder anderen Teilnehmern diskutiert, ist ein erheblicher Unterschied. Seminare am Bildschirm verlangen eine besondere Konzentration. Bei internen Befragungen haben sich viele Webinar-Teilnehmer zunächst noch skeptisch geäussert und nur eine Seminardauer von zwei bis drei Stunden täglich für sinnvoll gehalten. Die Teilnehmer sitzen nicht in einem Raum, fühlen sich daher unbeobachtet und lassen sich schneller ablenken. Sie müssen bei Onlineseminaren sehr diszipliniert auf Bewegungen achten und Hintergrundgeräusche vermeiden. Als Risiko wird derzeit noch das gelegentliche Versagen der Technik genannt.

Typisch Präsenzseminar
Lässt sich das herkömmliche Bildungssystem also ersetzen? Der Anteil des Präsenztrainings ist noch sehr gross. Viele Vorteile sprechen noch für das Präsenzseminar: Teilnehmer haben mehr Nähe, die «Tuchfühlung» zu anderen Teilnehmern wird geschätzt und beeinflusst das Seminarklima positiv. Bei Präsentationen vor Ort ist das Präsenztraining auch in Zukunft die erste Wahl. Vor Ort fühlen sich die Teilnehmer als Akteure, sie sind durch das Anfassen, Testen und Ausprobieren der Produkte stärker beteiligt.

Pinnwand-Übungen sind schwierig durchzuführen, die Moderation wie früher ist eingeschränkt, Teilnehmer können nichts ausprobieren, die Anschauung vor Ort fehlt. Die Präsentationen an Geräten per Video sind weniger attraktiv als vor Ort. Die Pausengespräche untereinander und das «Get-together» nach der Veranstaltung werden von Teilnehmern geschätzt. Digitale Seminare erschweren den Erfahrungsaustausch in der Gruppe. Für Teilnehmer an Seminaren und Tagungen ist der Seminarort auch ein Tapetenwechsel, kann für die Wissensaufnahme sogar eine Chance sein. Für Mitarbeiter ist es ein Ausdruck der Wertschätzung, wenn Arbeitgeber die Kosten für Reise und Übernachtung übernehmen und nicht nur die Ersparnis durch Webinare in den Vordergrund stellen. So wie es verschiedene Verkehrsmittel gibt, die ihre Berechtigung haben, existieren verschiedene Lernformen, die sich ergänzen und nicht im Wettbewerb zueinander stehen.

Die Seminaratmosphäre lässt sich nicht digital umsetzen. Gelegentliche Kritik von Teilnehmern: «Es ist schon ziemlich eintönig, den ganzen Tag am PC zu sitzen. Die Gruppendynamik im Seminar kann man nicht einfach downloaden.»

Key Points
Manche Teilnehmer haben vom Webinar eine derart hohe Erwartungshaltung, dass es zwangsläufig zu Enttäuschungen kommen muss. Es heisst, sich im Vorfeld über die Vor- und Nachteile der Lernformen zu informieren und beide miteinander zu vergleichen. Auch der Arbeitgeber sollte sich in diese Überlegungen integrieren. Ideal wäre es, wenn die unterschiedlichen Themen in beiden Formen angeboten würden, digital und als Präsenzseminar. Für Weiterbildungen gibt es in Zukunft die Mischform. Die Präsenz im Seminar ist bei Präsentationen durch nichts ersetzbar, sie liefert dem Trainee bessere Möglichkeiten zur Konzentration und optimiert damit den Lerneffekt. Vergleichbar ist dies mit der Fahrschule, in der der theoretische Teil inzwischen digital übermittelt wird und die Praxisstunde des Schülers im Auto des Fahrlehrers erfolgt. Die Kombination von Web- und Präsenzseminar ist denkbar, beide Lernformen sind gut kombinierbar.


Webinar-Besuche aus Teilnehmersicht

 Vorteile

  • Einsparungen von Reisezeit und Übernachtungskosten
  • Freie Wahl über den Raum und die Umgebung
  • Meist preisgünstigere Teilnahmegebühren
  • Keine Ablenkung durch andere Teilnehmer
  • Digitalisierung in der Weiterbildung vereinfacht vieles, hat sich in der Pandemie bewährt
  • Attraktivität des E-Learnings

Nachteile

  • Geringe Möglichkeit für einen Erfahrungsaustausch mit der Gruppe
  • Ablenkungen durch Telefon und sonstige Störungen
  • Die Räumlichkeit ist nicht ideal
  • Online-Seminare werden nicht so ernst genommen
  • Face-to-Face-Kontakte zur Gruppe fehlen und können zur «sozialen Isolation» führen
  • Die Umstellung auf online ist nicht jedermanns Sache
  • Vorbehalte gegenüber dem Lernen am Bildschirm

Paradoxes über Seminarbesuche

Je mehr wir lernen, desto mehr wissen wir.
Je mehr wir wissen, desto mehr vergessen wir.
Je mehr wir vergessen, desto weniger wissen wir.
Je weniger wir wissen, desto weniger vergessen wir.
Je weniger wir vergessen, desto mehr wissen wir.
Warum also lernen?

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